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Schienenübergangsverkehr

Der Mond hängt blass über der Schlei, als Herr Loose seinen Weg zur Lindaunisbrücke antritt. Das Wasser fließt träge, als hätte es längst verstanden, dass Eile keinen Sinn mehr hat. Seit Jahren soll die Brücke erneuert sein. Seit Jahren ist sie eine offene Wunde im Meeresarm, eine Narbe zwischen Angeln und Schwansen. Sie soll abgerissen werden, um Platz für eine Neue zu machen, eine, die den modernen Anforderungen genügt. Aber noch steht sie, rostend, ächzend, mit der Geduld eines alten Menschen, der seine Geschichte nicht loslassen kann.

Herr Loose gehört zu denen, die die Brücke fast täglich benutzen. Er kennt die Schlaglöcher im Asphalt, die knarzenden Geräusche, wenn der Wind durch die Stahlträger pfeift. Am frühen Morgen, wenn der Himmel noch in zarten Grautönen schimmert und der Atem der Erde wie ein sanfter Nebelschleier über der Schlei liegt, tritt Herr Loose seinen Gang zum Tagwerk an. Der Weg aus dem vorgelagerten Wohnort zur Haltestelle an der Nordseite, ein stilles Ritual, begleitet vom Erwachen der Welt. 15 Minuten zur anderen Seite, nicht nur ein reiner Übergangsweg, sondern eine Reise durch Licht und Schatten, durch Wind und Erinnerungen. Die Schritte hallen auf dem Lochblech, das mit jedem Tritt zu sprechen scheint. Unter ihm das Wasser, träge, träumend, spiegelnd. Doch er sieht auch die Schönheit. „Jeder Tag und jeder Abend ist anders“, murmelt er, als er stehen bleibt und das Licht auf der Wasseroberfläche betrachtet.

Jenseits der Brücke wartet ein anderer Zug – meistens pünktlich, manchmal nicht. Die Menschen eilen, huschen über die provisorischen Bahnsteige wie Schatten in der Dämmerung, ein rastloses Kommen und Gehen. Und doch, in diesen Minuten auf der Brücke, ist Herr Loose außerhalb der Zeit. Er verweilt im Moment, atmet die kühle Morgenluft, lauscht dem ersten Zwitschern der Vögel. Der Tag mag voller Hektik werden, doch hier, zwischen Nord- und Südseite, gehört die Welt für einen Augenblick nur ihm.

Aber ihr Schicksal ist besiegelt. Die Menschen haben vor über einem Jahrzehnt entschieden: sie wird gehen müssen. Die Maschinen stehen bereit, die Pläne sind längst gemacht, einige erste Arbeiten ebenso. Manchmal erscheint es ihm, als ob sie sich wehren würde. Wie ein altes Tier, das noch nicht gehen will. Immer wieder gibt es Bauverzögerungen, Materialengpässe, verworrene Zuständigkeiten, neue Ausschreibungen. Und so bleibt sie, trotz allem, doch noch für eine Weile. Wie lange? – Keiner weiß es so genau, aber bis dahin tragen ihre morschen Pfeiler die Last derer, die nicht anders können, als sie zu nutzen.

Herr Loose setzt sich auf ein Fleckchen am Ufer, betrachtet die Brücke, als wolle er sich jeden ihrer Risse, jedes rostige Nietenstück einprägen. Es gibt keinen Zorn in ihm, keine Wut über die Umstände. Nur eine stille Ehrfurcht. Die Welt ist im Wandel, das weiß er. Aber manche Dinge sollten bleiben dürfen, wenigstens ein wenig länger.

Die Abenddämmerung hüllt die Schlei in einen goldenen Schimmer, der Wind wird kühler, kräuselt das Wasser, zieht kleine Wellen über die Oberfläche. Er schließt die Augen. Das Zwitschern der Vögel, das Wispern des Schilfs – für einen Moment ist die Welt friedlich. Hier, auf der alten Brücke, inmitten des Übergangs, zwischen Vergangenheit und Zukunft, hat er seinen Ort der Ruhe gefunden.

Er weiß, dass sie bald verschwinden wird. Aber heute, in diesem Moment, lebt sie noch.

Gedanken by L.